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Zwischen Verzweiflung und Ekstase - Crossover-Projekt: Jazz meets Luther bei den Ruhrfestspielen

RECKLINGHAUSEN. Es brauchte nicht viel. Vier Flötistinnen, zwei Jazzmusiker und ein Schauspieler unter dem Dach des Festspielzeltes der Ruhrfestspiele Recklinghausen. Mehr brauchte es nicht, um in knapp zwei Stunden die Zuhörerschaft über illustre Kompositions- und Textbrücken ins Mittelalter zu entführen, hinein in die Klang- und Lebenswelt Martin Luthers.
Zwischen Verzweiflung und Ekstase - Crossover-Projekt: Jazz meets Luther bei den Ruhrfestspielen

Zu Flautando Köln gehören Susanne Hochscheid, Kerstin de Witt, Katrin Krauß, Ursula Thelen (v.l.)

Nur einen kleinen Teil des musikalischen Spektrums zwischen geistlicher und weltlicher Musik zur Zeit der Reformation fing die Projektgruppe mit ihren außergewöhnlichen Möglichkeiten ein. Dafür aber den, der einen erfrischenden Querschnitt durch bekannte und unbekannte zeitgenössische Kompositionen der Reformationszeit bot. Verfremdet und gespiegelt durch die Ausdrucksmöglichkeiten des Jazz und seiner Improvisationskunst, der dem Gefühlsspektrum zwischen höchster Ekstase und abgrundtiefer Verzweiflung seine eigenen Klangfarben beisteuern kann.

Das weltbekannte Flötenquintett Flautando Köln mit Susanne Hochscheid, Katrin Kraus, Ursula Themen und Kerstin de Witt stützte sich dabei auf die Kompositionen des Vibraphonisten Stefan Bauer, dem mit diesem Projekt eine atmosphärisch spannungsvolle Mischung von Barock bis Freejazz gelang, dargeboten mittels einer akustisch wie optisch faszinierenden Klangfarbenbreite von Blockflötentönen und Sopran in Verbindung mit den glockenartigen Tönen zweier Vibraphone und der mal trägen, mal treibenden Percussion Torsten Müllers.

Das Ensemble erzeugte technisch brilliant und stilsicher eine überaus dichte, immer wieder überraschende musikalische eigenständige Resonanz- und Reflexionsfläche zwischen den Texten, die Schauspieler Martin Brambach mit sächsischem Akzent aus Luthers Briefen, Streitschriften und Tischgesprächen pointiert vortrug.

Meist getrennt, zeitweise jedoch zusammengeführt, ergänzten sich auf diese Weise Wort und Musik und begrenzten einander. Vermutlich im Sinne Luthers, der zu seiner Zeit noch dem geistlichen Wort den Vorrang gab, obwohl er gerade mit seinem Schaffen als Lieder-dichter viele einfach Glaubende erreichen konnte. Dem Zuhörer blieb es auf diese Weise überlassen, nach seinen Möglichkeiten und Vorlieben die musikalische und die spirituelle Dimension zu verbinden - oder nicht.

Die (Free-)Jazz-Elemente mit dem ihnen eigenen emotionalen Widerstandspotential trugen einerseits erheblich dazu bei, die gefühlte Distanz zu manchem äußerst kritischen Luthertext zu vergrößern. Auf der anderen Seite unterstrichen diese Passagen aber auch Luthers eigenes Widerstandspotential, das Brambach aus dessen Texten als Prediger, Politiker, Privatmensch und Komponist herauszulesen suchte. Eine musikalisch-kritische Interpretationshilfe gleichsam, weil es hier um die streitbare Seite des Reformators ging und ihre verheerende Wirkung bis in die Neuzeit.

Um ein Beispiel zu nennen: Brambach liest aus Luthers Schrift gegen die Juden seiner Zeit. Die Begeisterung über Brambachs Vortragskunst erstickt im üblen Nachgeschmack der antijüdischen Botschaft. Kein Applaus im Publikum, nicht an dieser Stelle.

Doch genau hier, an dieser Stelle, wird deutlich, wozu der musikalisch-textliche „Cross-over“ dieser Performance zwischen Renaissance-Musik und Jazz, zwischen damals und heute, dienen kann und weshalb der Evangelische Kirchenkreis Recklinghausen genau diese eine Veranstaltung unter den vielen der Ruhrfestspiele unterstützt: Um zu einem vertieften Verständnis des Zusammenhangs von Text und Klang zu kommen und aber auch auf die darin enthaltenen antijüdischen und autoritären Botschaften und ihre Wirkungsgeschichte aufmerksam zu machen.

Dazu gehört, darüber zu informieren, dass Luther nicht nur dazu aufrief, Juden zu töten, sondern auch Hexen und dass er den Fürsten nahelegte, ihre Bauern zu erschlagen, falls sie aufmuckten. Und auch darüber, dass ein Jahrhundert später der Lutherschüler Johann Sebastian Bach, der bis heute Laien wie Berufsmusiker als Improvisateur und Komponist fasziniert, seine mit Anitjudaismen gespickte Matthäuspassion komponierte. Und dass wiederum ein Jahrhundert später ausgerechnet der Judenchrist Felix Mendelssohn (später: -Bartholdy) mit seiner Uraufführung der Bachschen Matthäuspassion 1829 in der Berliner Singakademie vor dem begeisterten König Friedrich Wilhelm III und den ebenso begeisterten Geisteswissenschaftlern Droysen, Hegel, Heine und Schleiermacher eine Bach-Renaissance in Gang brachte und damit erneut den beigepackten anitjudaistischen Botschaften zu neuer Aufmerksamkeit verhalf.

Die ungewöhnliche musikalische Bandbreite der Performance, die zeitgenössische tänzerische und folkloristische Motive einbezog, verdankte sich zu guter Letzt wohl schon im Vorfeld einer eingehenden Beratung mit Kirchenmusikdirektorin Elke Cernysev, die bekannt dafür ist, immer wieder zusammen mit anderen musikalisches und künstlerisches Neuland zu betreten.

Text/Bild: gh