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Der starke Mantel des Teilens

RECKLINGHAUSEN Ökumenischer Gottesdienst der Wohlfahrtsverbände mit Heribert Prantl als Gastredner - Zum Sankt-Martins-Tag, dem 11. November 2012, hatten die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Prof. Dr. Heribert Prantl, Leiter des Innenressorts und Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, zur ökumenischen Gastpredigt in die Gustav-Adolf-Kirche eingeladen. Unter dem Titel „Wie viel Mantel braucht der Mensch? - Soziale Gerechtigkeit im Friedensnobelpreisland“ begeisterte der katholische Prantl die zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörer mit einer engagierten, mahnenden Ansprache in geschliffenster Rhetorik.
Der starke Mantel des Teilens

Prof. Dr. Heribert Prantl

Er erinnerte an die Erzählung des Sankt Martin, der seinen Umhang in winterlicher Kälte mit einem Bettler teilte. „Sie ist eine christliche Ur-Geschichte, der Mantel ist der Erinnerungsort für die christliche Nächstenliebe schlechthin.“ Als beißenden Kontrast setzte Prantl diesem Beispiel für Nächstenliebe den Umgang mit Flüchtlingen seitens der Europäischen Union entgegen, die kürzlich den Friedensnobelpreis verliehen bekam: „Es gibt sehr viele Menschen, die von einem Zipfel des Mantels, von einem Zipfelchen träumen, die für dieses Zipfelchen ihr Leben riskieren. Aber wenn sie versuchen, dieses Zipfelchen zu ergreifen, schlagen wir sie auf die Pfoten, nennen sie Illegale, lassen sie im Mittelmeer absaufen - und wenn das nicht klappt, nehmen wir sie in Abschiebehaft“ , klagte Prantl an.  

Die Flüchtlinge seien „die Botschafter des Hungers, der Verfolgung, des Leids“, so Prantl; ihr Tod im Mittelmeer sei das Produkt „unterlassener Hilfeleistung“ und Teil einer Abschreckungsstrategie, in der Hilfe nur zur Flucht ermuntere. Daher spielten die EU- Politiker den Pontius Pilatus, der seine Hände in Unschuld wäscht. Prantl zeigte in Details die Misere der Flüchtlingspolitik in Deutschland auf, die den Flüchtling wie „eine Mischung aus Mündel und Straftäter“ behandele. „Die europäische Demokratie ist eine große exklusive Veranstaltung, die den Reichtum drinnen und die Not draußen behalten möchte“, sagte der gelernte Jurist Prantl mit Blick auf die sog. EU-Rückführungspolitik, die besonders gut funktioniere.

 
Das „Versprechen der Europäischen Union, sie sei ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, gelte nur für „europäische Menschen“. Mittlerweile sei die 60 Jahre alte Genfer Flüchtlingskonvention sei brüchig geworden. Die Politik könne nur erfolgreich sein, wenn sie „ein gewisses Maß an legaler Einwanderung“ zuließe. Es käme in nachhaltiger Weise darauf an, "die Verhältnisse in den Fluchtländern zu verbessern“ und für einen gerechten Handel zu sorgen. Das Gegenteil sei jedoch der Fall: „Solange europäische Butter in Marokko billiger ist als die einheimische, solange französisches Geflügel in Niger weniger kostet als das dortige, solange schwimmende Fischfabriken alles wegfangen, was zappelt – so lange muss man sich über den Exodus aus Afrika nicht wundern. Die EU-Subventionspolitik ist auch eine Politik, die Fluchtursachen schafft. Sie sorgt für die schmutzigen Flecken auf der Weste der Friedensnobelpreisträger-Union“, hielt Prantl fest.

Dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg fehle die soziale Sensibilität, die das Bundesverfassungsgericht auszeichne, als es in Deutschland das Grundrecht eines jeden Bürgers auf ein menschenwürdiges Existenzminimum festschrieb. Das Vertrauen seiner Bürger könne die EU nur gewinnen, wenn es gelinge, „Regeln für ein sozialverträgliches Wirtschaften“ zu etablieren, die der „Sorge um den inneren Frieden Rechnung zu tragen“ hätten.

Gegen jeden Anflug von Resignation und Bequemlichkeit zitierte Prantl aus den Flugblättern der Weißen Rose: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt habt“. Und: „Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keiner anfangen!“ Heute trage der notwendige Widerstand in der Demokratie einen anderen Titel: „Er heißt Widerspruch, Zivilcourage, aufrechter Gang, er heißt zum Beispiel 'Netzwerk für demokratische Kultur', Diakonie, Flüchtlingskreis“, beschrieb Prantl. Mit Blick auf seinen verstorbenen Lehrer, Arthur Kaufmann, sagte er, dass dieser „ 'kleine' Widerstand beständig geleistet werden muss, damit der große Widerstand entbehrlich bleibt”. 

In der Präambel der Schweizerischen Verfassung von 1999 hieße es, so Prantl, die „Stärke eines Volkes“ bemesse sich am „Wohl der Schwachen“. Sein Schlussfazit lautete demgemäß: „Wir müssen Stärke neu definieren – und Sankt Martin kann uns dabei helfen. Teilen ist Stärke. […] Der Mensch braucht zumindest so viel Mantel, dass er Mensch sein kann. Das ist die Botschaft des Sankt Martin, das ist die Mahnung am Sankt Martins-Tag.“


In seiner 45-minütigen Ansprache ließ Prantl mit anregenden Interpretationen, zum Beispiel zur Herkunft der Sozialgesetzgebung im Grundgesetz, keinerlei Langeweile aufkommen. Das große Publikum dankte es ihm mit anhaltendem Applaus. Auch die Liturgen, Pfarrerin Silke Niemeyer von der Altstadtgemeinde und Ludger Ernsting vom Gasthaus in Recklinghausen waren’s sehr zufrieden mit der Resonanz, die der ökumenische Gottesdienst dank Heribert Prantl gefunden hatte. Bereits im Vorjahr war Prantl im Rahmen der Ausstellung "Kunst trotz(t) Armut" zu Gast in der Gustav-Adolf-Kirche.

Text/Bild: hh