Wie Thilo Sarrazin zum Angriff auf Türken, Araber und die 'Unterschicht' bläst
“Ich war sehr gut in evangelischer Religion”
Was vor wenigen Jahren den Republikanern mit Franz Schönhuber nicht gelungen ist, hat nun der ehemalige Berliner Finanzsenator und vormalige Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin hinbekommen, der noch der SPD angehört. Mit gezielten Polarisierungen zu Fragen von Migration, Integration und Sozialstaatskosten scheint er die bundesdeutsche Konsensgesellschaft zu spalten. Sein umstrittenes Buch “Deutschland schafft sich ab” verkauft sich derzeit wie kaum ein anderes Sachbuch. Mit seinen Alarmmeldungen hat er sich nichts Geringeres vorgenommen, als 'Deutschland vor dem Untergang' zu retten.
In Recklinghausen hatte es kürzlich nur drei Stunden gedauert, da waren sämtliche Karten für seine Buchvorstellung in der Aula des Gymnasiums Petrinum ausverkauft, vor der sich nur wenige Vertreter einer antifaschistischen Initiative und der Partei die Linke im Protest versammeln. Drinnen erntet Sarrazin viel Beifall, keinen Protest. “Ich war sehr gut in evangelischer Religion“, erzählt er dem Publikum von seiner Schulzeit im Petrinum. Ohne Kontrahenten auf dem Podium präsentiert er seine steilen Thesen den mehr als 250 Zuhörerinnen und Zuhörern, die sich, so hat es den Anschein, der 'geplünderten Mittelschicht' zurechnen.
Der Islam als Modernisierungsbremse
“Nur radikale Schilderungen einer Situation bewirken Änderungslösungen. Wir brauchen eine andere Republik” verkündet Sarrazin, scannt die Bevölkerung als ökonomische Humanressource durch und wiederholt seine Behauptungen zur geringen Geburtenrate akademisch ausgebildeter Frauen, zur “sinkenden Intelligenz” durch die zu hohe Geburtenrate der Unterschicht, zum Versagen des Bildungssystems, zum “mangelhaften Willen zur Integration von Migranten aus muslimischen Ländern”. Diese “kommen aus einer Kultur, die auf Schulbildung keinen Wert legt”, spitzt Sarrazin zu. Ein “kultureller und gesellschaftlicher Rückschritt” sei zu verzeichnen und “wir kämpfen Kämpfe, die ausgekämpft waren”, beteuert Sarrazin und erntet dafür kräftigen Beifall beim Publikum.
In seinem Kapitel zur Zuwanderung sei er zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Probleme mit der Integration vor allem um die Migranten aus muslimischen Ländern abzeichneten, also: „Türkei, Afrika, Mittel-Ost, Bosnien und Herzegovina“. Da andere Ausländer entweder eine hohe Selbständigkeitsquote hätten oder nicht häufiger als Deutsche von Transferleistungen wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe abhängig seien, lautet seine Schlussfolgerung: „Die Probleme müssen an den Gruppen selbst liegen. Es muss etwas zu tun haben mit dem kulturellen Hintergrund des Islam. Es gibt keine andere Erklärung als den Islam. Es handelt sich um einen mangelhaften Willen zur Integration. Bei jemandem, der nach 30 Jahren noch kein Deutsch sprechen könne, hat dies nichts mit Intelligenz zu tun. Diese Menschen kommen aus einer Kultur, die auf Schulbildung keinen Wert legt. Deren Kultur ist innovationsfeindlich“.
Der Zuwanderer und die Insel der Glückseligen
Zuwanderer betrachtet Sarrazin einzig und allein aus wirtschaftlicher Verwertungsperspektive. Ganz 'unrassistisch' entscheidet nichts anderes als die Aussicht auf rentablen Einsatz, wer willkommen ist und wer gehen muss. Wo diese Ausrichtung der Interessenslage von SPD und Bundesbank widersprechen soll, kann man sich fragen. Beide haben sich offiziell von Sarrazins Thesen distanziert.
Nun, da die alten Zuwanderer, die ehemaligen Gastarbeiter für besonders schwere und schmutzige Arbeiten, die die Deutschen lieber anderen überlassen wollten, alt und krank sind und ihren Kindern nichts beigebracht haben, lägen eben diese ungebildeten Kinder dem Staat auf der Tasche. So lautet die Quintessenz der Polemik Sarrazins, die den Hauch des Angriffs auf “nutzlose Esser” atmet. Kein Wort verliert er in seinem Vortrag dazu, dass Ausländer in Deutschland kaum eingebürgert wurden, etwas ein Drittel von ihnen nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis hat, Ausländer mit umfänglichen rechtlichen Benachteiligungen als Bürger zweiter Klasse behandelt werden, strafrechtlich besonders erfasst werden, als Asylsuchende in Abschiebegefängnissen traktiert werden, bürokratischen Schikanen, z.B. der schwierigen Anerkennung von Zeugnissen oder Führerscheinen, ausgesetzt werden, kurz: seitens des Staates kaum an effektiver Integration gearbeitet wurde. Wenn Sarrazin den “Druck auf dem System” durch die zukünftige Zuwanderung aus Afrika skizziert, ist kein Wort von der Plünderung von Fischgründen durch EU-Fischfabriken vor der afrikanischen Küste die Rede, kein Wort von der Zerstörung afrikanischer Märkte durch europäische Agrarsubventionen, Überschwemmungen und Dürreperioden durch die Klimagase der privilegierten Länder, die Menschen aus perspektivlosen Gegenden dieses Planeten in die reichen Länder ziehen lassen. Deutschland soll nach Sarrazin quasi eine Insel der Glückseligen bleiben, für die andere freilich den Preis zu zahlen haben.
Der Zwang zur Produktivität
Schließlich nimmt Sarrazin muslimische Zuwanderer und die 'deutsche Unterschicht' in einem Schlag aufs Korn. Er fordert “zwingende Kitas, Ganztagsschulen für alle, Arbeitszwang für Arbeitslosengeld II-Empfänger, keine Familienpolitik über Geldleistungen, da das Kindergeld höher sei als die Ausgaben pro Kind.” Durch das Arbeitslosengeld II werde mit 304 Euro pro zusätzlichem Kind “ein falscher Anreiz geschaffen”. Die Empfänger der Transferleistungen lebten in “einem relativ sorgenfreien Zustand, sich mit Unterhaltungsmedien auszustatten”. Gleichgültig ob Migrant oder nicht, nur wer sich uneingeschränkt der Vernutzung durch Arbeit unterwirft, erfüllt Sarrazins K.O.-Kriterium. Unter Applaus aus dem Publikum setzt Sarrazin nach: “Wir müssen den Zuzug nach Deutschland so unattraktiv wie möglich machen. Wer sein Geld nicht mit Arbeit verdienen kann, sollte gar nicht erst kommen”. Es müsse einen radikalen Zuzugsstopp aus muslimischen Ländern geben, außer für Höchstqualifizierte. Es dürfe von dort her “keinen Zuzug mehr” stattfinden. Die Einwanderungskontrollen in der EU sollten verstärkt werden. Europa werde sich sonst “bis zur Unkenntlichkeit verändern”, malt Sarrazin die europäische Zukunft in düsteren Farben aus. "Ich möchte nicht, dass wir zu Fremden im eigenen Land werden", schreibt er auf Seite 309 seines Buches.
Die selbst erzeugten Imageprobleme
Skurril bleibt auf dem Hintergrund diffamierender Herabsetzungen muslimischer Gruppen die Klage Sarrazins, Siemens habe “Schwierigkeiten, hochqualifizierte Ingenieure aus dem asiatischen Raum” zum Umzug nach München zu bewegen. Denn Deutschland gilt im internationalen Vergleich nicht gerade als zuwanderungsfreundliches Land, wie sich leicht an den bescheidenen Einbürgerungsquoten oder den Ausführungen zum Wahlrecht für Ausländer erkennen lässt. Zu diesem Erscheinungsbild trugen die Volksparteien mit ihrer Gesetzgebung und ausländerfeindliche Verlautbarungen von Politikern ihr Scherflein bei. Womöglich sind nicht nur die Ausschreitungen von Hoyerswerda und die Brandstiftungen von Solingen und Rostock im Ausland in Erinnerung geblieben, sondern auch Parolen wie “Kinder statt Inder”.
Die Taktik
Wie geht Sarrazin vor? Was macht ihn so erfolgreich? Mit seinen Äußerungen zielt Sarrazin - wie oftmals zuvor - bewusst darauf, bestimmte moralische Erwartungsmuster zu verletzen. Auf die Frage, ob er die Behauptung zur Existenz eines “Juden-Gens” zurückgenommen habe, antwortet er in Recklinghausen fast fröhlich lachend: “Nein, ich weiß auch gar nicht, wieso ich dies hätte zurücknehmen sollen”. Solche Provokationen dienen ihm nicht nur dazu, die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen. Er stilisiert sich damit in die Rolle eines Verfolgten, der seine freie Meinung nicht äußern dürfte. Dazu passend titelte die BILD-Zeitung am 4.9.2010: „Wir kämpfen für Meinungsfreiheit – Das wird man ja noch sagen dürfen“. Dies geschah, obwohl er seine Thesen in eben jener deutschen Tageszeitung mit der höchsten Auflage ausbreiten durfte, seinen Bestseller ungehindert publizieren konnte, diverse Einladungen in TV-Runden erhielt und mit der Provokationsdebatte tagelang die Nachrichtenkanäle bediente.
Einerseits spielt Sarrazin die Rolle des Verfolgten, der seine Meinung zu Integrationsproblemen nicht äußern darf. Mit den deutschen Ausländergesetzen im Rücken kann er mit Fug und Recht sagen: “Ich argumentiere aus der Mitte der Gesellschaft”. Denn die hat Ausländer stets als besondere Gruppe behandelt. Durch die Kombination, in einer Person Verfolgter und Mehrheitsvertreter zugleich zu sein, macht er sich zum Vertreter einer Mehrheit, die ihre Meinung nicht mehr frei äußern dürfe und daher unterdrückt werde. Damit schürt er die Angst bei der einheimischen, deutschen Bevölkerung, fremd im eigenen Land zu werden.
Die Zahlenspiele der Angst
Sarrazin befeuert diese Zukunftsangst mit demographischen Hochrechnungen, die bei Licht betrachtet zweifelhaft sind. Er malt ein Bild eines schrumpfenden und islamisierten Deutschlands aus: In 120 Jahren hätten mehr als drei Viertel aller Einwohner Deutschlands einen Migrationshintergrund. Rechnet man mit seiner Methode geradliniger Zuwächse beginnend vom Jahr 1890, so müssten heute in Deutschland nicht 80 Millionen, sondern 253 Millionen Menschen leben, wie kürzlich in 'hart-aber-fair' vom 2.9.2010 zu sehen war. Oder er berichtet von Berlin-Neukölln, wo die Wohnbevölkerung zu 50 Prozent aus Migranten bestehe. In den Schulen stamme aber 80 Prozent der Kinder aus dieser Gruppe, die später einmal wieder Kinder bekämen. Mit solchen Zahlen schürt er die Verunsicherung im Publikum. Mit raffinierten Zickzackmanövern macht er sich gegen kritische Rückfragen immun, wenn er in Recklinghausen sagt: “Ich will keinen Prognosegehalt meiner Berechnungen” und “das sind nur Modellrechnungen” oder zum 'Juden-Gen': “damit ist keinerlei Werturteil verbunden” (faz.net). Durch changierende Vagheiten und Andeutungen entzieht er sich nachfassender Kritik. So gelingt es ihm, die große Zustimmung aus dem bürgerlichen Lager weiterhin zu behalten.
Sarrazin baut auf die subtilen Effekte seiner Vereinfachungen. Furcht und Schrecken sollen die Stimmung prägen. Für feinziselierte Diskussionen der Ursachen der Entwicklung von Parallelgesellschaften bleibt kein Raum mehr. Er kann sich auf die Wirksamkeit seiner Suggestionen verlassen. Denn er weiß: Anstrengungen mit Mehrdeutigkeiten, Ursachenanalyse und Differenzierungen neigen dazu, versöhnlich-therapeutisch in der Komplexitätsfalle unterzugehen. Sie entfalten keinerlei polemische Kraft, auf die es ihm gerade ankommt: “Nur radikale Schilderungen einer Situation bewirken Änderungslösungen. Wir brauchen eine andere Republik!”, hämmert er der Zuhörerschaft ein. Wenn Sarrazin als nunmehr 'geläuterter Politiker' die Parteien angreift, erklärt er sich und seine Anhänger zu einer Art deutscher Volksbewegung: “Ich bin mir nicht sicher, ob mein Buch etwas ändert. Sie müssen da mithelfen!" und zuvor: “Politiker verkehren ja nicht mit den Bürgern, nur mit Politikern und Medien. Das ist eine geschlossene Welt.”
Sarrazin schmückt seine Argumente mit einem wissenschaftlichem Anstrich, wenn er in seinem Buch Quellen und Statistiken heranzieht. Seine Niedergangsthese schwindender vererbter Intelligenz scheint sich jedoch auf Zahlen aus dem Zufallsgenerator zu stützen. Mal behauptet er Intelligenz sei „zu 50 bis 80 Prozent erblich“ (Seite 91). Später hält er geistige Unterschiede für „zum Teil erblich“ (Seite 98). Die Kette mündet in der Erkenntnis, dass es "für den Zusammenhang, um den es hier geht, egal (ist), ob die Erblichkeit von Intelligenz bei 40, 60 oder 80 Prozent liegt" (Seite 98).
Zwei Evangelische Wortmeldungen zur Sache
Der Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Scheider, warnte in seinem Bericht auf der EKD-Synode am 7. November 2010 vor einer Propaganda vom Schlage Sarrazins: “Pauschale Vorwürfe gegenüber muslimischen Migrantinnen und Migranten als ‚genetisch’ oder doch ‚kulturell’ bedingt wenig intelligent, ökonomisch unproduktiv, integrationsunwillig und nicht anpassungsbereit sind herabwürdigend und stigmatisieren einen Teil der Bevölkerung in Deutschland in gefährlicher Weise.” Als Vorsitzender der Kommission für Migration und Integration der EKD stellte der westfälische Präses Dr. hc. Alfred Buß kürzlich auf evangelisch.de klar: “Unsere Bildungs- und Integrationspolitik gehört ebenso auf den Prüfstand wie unser nach wie vor auf Abwehr setzendes Aufenthaltsrecht.”
Bericht zu Sarrazin als pdf zum Ausdrucken
Bild/Text: Dr. Hans Hubbertz, Industrie- und Sozialpfarrer im Ev. Kirchenkreis Recklinghausen