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Wohin entwickelt sich die Kirche? Empfang des Kirchenkreises

RECKLINGHAUSEN – Ändert sich die Gesellschaft, muss sich auch die Kirche ändern. Das ist ein reformatorisches Grundprinzip. Die Frage ist nur: wohin? Die amerikanische Partnerkirche „United Church of Christ“ (UCC) ruft inzwischen zur Heilung der tiefen Risse in der Gesellschaft auf. Was bedeutet diese auch in Deutschland feststellbare gesellschaftliche Entwicklung für die evangelische Kirche in Deutschland? Erreicht sie überhaupt noch ihre Gläubigen? Und falls ja, wo und wie?
Wohin entwickelt sich die Kirche? Empfang des Kirchenkreises

Diskutierten auf dem Podium zum Reformationsbedarf der Kirche: (v.l.) Superintendentin Katrin Göckenjan, Reinhard Bingener, Prof. Dr. Isolde Karle und Pfarrer Dr. Hans Hubbertz.

Diesen Fragestellungen gingen Superintendentin Katrin Göckenjan und Dr. Hans Hubbertz, Pfarrer für Industrie- und Sozialarbeit und Öffentlichkeitsarbeit beim Empfang des Evangelischen Kirchenkreises Recklinghausen im Haus der Kirche im Gespräch mit dem Journalisten Reinhard Bingener (FAZ) aus Hannover und der Bochumer Praktischen Theologin Prof. Dr. Isolde Karle nach.

Die Reformation sei Kraftquelle und ständige Vergewisserung für den Auftrag der Kirche, betonte die Superintendentin in einer Andacht zu Beginn. Die Bibel wieder zu lesen, könne einen Christenmenschen von der Sorge um sich selbst und damit zum Dienst am anderen befreien. „Sünde“ sei im Kern eine Beziehungsstörung. Und eine Gesellschaft, in der viele Menschen nicht (mehr) an einen persönlichen Gott glaubten, der ihnen nahe kommt, könne gnadenlos werden, warnte die Superintendentin.

Um eine aktuelle Standortbestimmung für die Kirche der Reformation gebeten, erklärte der Journalist Bingener den zurückliegenden Reformversuch der Evangelischen Kirche für gescheitert. Die Kirche sei inzwischen einer Art Selbstbetäubung erlegen. Prof. Karle betonte dem gegenüber, dass das Reformationsjubiläum auch eine Chance sein könne, sich in schwierigen Zeiten kritisch mit sich selbst zu beschäftigen und sich beim Lesen von Luthers Schriften des eigenen Standortes zu vergewissern.

Luther sei doch inzwischen längst ökumenisch anerkannt bzw. vereinnahmt, kritisierte Reinhard Bingener, und deshalb für diejenigen Menschen auch nicht mehr so attraktiv, die besonders von den Unterschieden zur Katholischen Kirche fasziniert waren und sind. Die Rechtfertigungslehre Luthers bleibe für den Protestantismus zentral, so Karle, und mit ihr die Betonung der Glaubensfreiheit und die Befreiung von dem Erwartungsdruck anderer. Im Umfeld der Universität stelle sie exemplarisch eine gewisse Unbeholfenheit im Umgang mit den Kernthemen Luthers fest, die im Alltag deutlicher zur Sprache gebracht werden könnten, beispielsweise in der Akzeptanz von Sexualität, Weltlichkeit, Ehe und Familie, also all den „Sorgen im Großen und Kleinen“.

Luther sei eine „nationale Figur“, so Bingener, ein „Apostel der Deutschen“. Das Reformationsjubiläum 2017 zeige eine gewisse Verlegenheit im Umgang mit diesem nationalistischen Erbe Luthers. Als Person stehe Luther aber gerade auch für den Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Am aktuellen Verhältnis zwischen Kirche und AfD zeige sich, dass die öffentliche Rolle von Religion neu zu diskutieren sei. Die sogenannte „identitäre Bewegung“, bestehend aus Rassisten und Populisten, blende die bestehende Vielfalt aus.

In diesem Zusammenhang sei eine ernsthafte Auseinandersetzung erforderlich zu der Frage, was es bedeute, Staatsbürger und Christ zu sein, knüpfte Isolde Karle an. Eine klare Identität als Christ gäbe es nicht. Und auch die oft beschworene Einheit der Christen sei längst verloren. Jedes Individuum sei angehalten, andere nicht durch seine moralische Ächtung auszugrenzen. Das Kreuz sei kein Markenzeichen, auch nicht von Bischöfen.

„Wie könnten denn“, fragte die gastgebende Superintendentin, „die Leute, die sich distanziert hätten, doch noch erreicht werden und mit welchen Bindungskräften?“ Bingeners Antwort: Die Protestanten sollten das Reformationsjubiläum nicht mit Erwartungen überfrachten und lieber die gute Arbeit vor Ort stärken, das würde Bindekräfte freisetzen. Vor allem für die Arbeit an den Wendepunkten des Lebens, den sog. Kausalien, bräuchte es eine seelsorgerlich kompetente und nahe Begleitung der Menschen, stellte Prof. Karle fest und betonte: „Gute Gottesdienste sind das Beste, was die Kirche zu bieten hat.“ Bingener assistierte: „Die Kasualien sollten gestärkt und die Gemeinden nicht abgewertet werden.“

Die Strukturreform habe einen hohen Preis gehabt, konstatierte Prof. Karle. Die beteiligten Kirchen seien komplett erschöpft und mit sich selbst beschäftigt. Auffällig sei, dass die reichsten Kirchen am meisten klagten. Offensichtlich seien viele Selbstverständlichkeiten geschwunden, die Angst vor dem Bedeutungsverlust der Kirche wachse. Gemeinden, die während des Reformprozesses ihr Gemeindehaus erhalten konnten, fühlten sich als Gewinner.

Bingener kritisierte im Anschluss daran, dass viele Pfarrerinnen und Pfarrer die meist quälend langsamen Veränderungsprozesse nicht wirklich mitgemacht hätten, aber dennoch oft eine auffällige Weinerlichkeit zeigten und einen „wattierten Diskurs“ gegenüber den Städten pflegten. Am Beispiel der Studierenden führte Prof. Karle aus, dass diese die Kirche als Behörde erlebten, die sehr wenig auf deren Lebensbedingungen eingehe und vorhandene innerliche Motivation kaum nutze oder fördere – statt dessen formuliere sie Eingangsbedingungen und sei kaum überkonfessionell vernetzt.

Den Gemeinden solle nicht viel vorgeschrieben werden solle, forderte der Journalist Bingener in seinem Schlusswort. Auf der Basis einer Grundfinanzierung sollten sie besser sich selbst überlassen bleiben und dann die Resonanz abgewartet werden. Personalpolitisch sollten die besten Leute in höhere Strukturen gebracht und den Gemeinden mehr Rechte bei der Wahl des Personals gewährt werden. Eine klare „Markenorientierung“ nach außen sei wichtig.

Mit Blick auf den Pfarrermangel und Generationenwechsel in naher Zukunft appellierte die Praktische Theologin Prof. Dr. Karle an die Zuhörerschaft, sich nicht zu ängstigen: „Der Herr lässt Sie nicht im Stich!“ Es sei auch möglich, wo nötig, Gottesdienste zu reduzieren. Neben den nachweislich bindenden Effekten bei den Kasualien seien und blieben Öffentlichkeitsarbeit, Telefonseelsorge und Musik wichtige Arbeitsfelder, um Kontaktflächen anzubieten oder zu nutzen. Die Vernetzung vor Ort in die Zivilgesellschaft hinein bleibe eine zentrale Aufgabe aller Beteiligten.

Wie sich die Kirche vor Ort mit jedem neuen Projekt in Teilbereichen verändert, davon konnte sich die Zuhörerschaft anhand der abschließenden Präsentation der Förderprojekte der kreiskirchlichen Stiftung „ernten und säen“ in der Arbeit mit Flüchtlingen selbst überzeugen.

Text: Gert Hofmann/Fotos: Ulrich Kamien